Ab Oktober werden mehr als sieben Milliarden Menschen leben. Nahrungsmittel, Wasser und Energie sind schon knapp – und ungleich verteilt. Wohin steuert die Erde?
Alle Palmen waren abgeholzt und alle Böden ausgelaugt. Da genügten die Ernten nicht mehr, um alle Bewohner der Insel zu ernähren. Zuerst kam der Hunger, dann ein Bürgerkrieg, dann zogen die Menschen von ihren Häusern an der Küste in Höhlen. Deren Eingänge vermauerten sie, um sich besser zu schützen. Nach dem Zusammenbruch der Gemeinschaften und der Inselreligion streiften marodierende Banden über das Eiland – und die Menschen begannen, ihre Toten zu essen, weil sie keine andere Nahrung fanden.
So beschreibt der Evolutionsbiologe und Ethnologe Jared Diamond den Zusammenbruch der Gesellschaft auf den Osterinseln. In seinem Buch „Kollaps“ erzählt er von Gesellschaften, die Gefahr liefen oder laufen, die Ressourcen ihres Lebensraumes zu überdehnen und sich damit selbst auszurotten. Das Buch war weltweit ein Bestseller. Diamonds Warnung, dass wir selbst dabei sind, die Ressourcen der Erde zu überdehnen, schien auf fruchtbaren Boden zu fallen. Pessimisten warnen seit Jahrhunderten davor, dass die wachsende Weltbevölkerung die Kapazitätsgrenzen der Erde zu sprengen droht. Zwar hat sich bisher keine der Warnungen bewahrheitet, trotzdem kehren die alten Ängste zurück.
Am 31. Oktober wird ein Kind auf die Welt kommen, mit dessen Geburt die Zahl der Menschen auf dem Planeten die Schwelle von sieben Milliarden erreicht. In den kommenden 40 Jahren soll die Weltbevölkerung noch einmal um zwei Milliarden Menschen zunehmen. Die Menscheit wächst explosionsartig. Gleichzeitig leistet sie sich mehr: Der durchschnittliche Erdenbürger verbraucht heute mehr Nahrungsmittel, Wasser und Strom als vor zehn Jahren. Und in China und Indien streben 2,4 Milliarden Menschen danach, zu leben wie die im Westen: mehr Fleisch zu essen, ein Auto zu fahren und mit Smartphones im Internet zu surfen.
Die Anzeichen mehren sich, dass die Welt für diesen Entwicklungssprung bezahlen muss. Einzelbeobachtungen fügen sich zu einem düsteren Gesamtbild: Die Preise für Erdöl, Kupfer, Stahl, Weizen, Mais, Reis und Milch sind in den vergangenen Jahren teilweise auf historische Rekordwerte gestiegen, und die weltweite Nachfrage nimmt langfristig weiter zu. Was für Verbraucher in den Industrieländern ein Ärgernis ist, kann für Menschen in Entwicklungsländern Hunger bedeuten. Thunfisch und Scholle sind beinahe ausgerottet. China behält Rohstoffe für sich, die Fabriken weltweit benötigen. Vor wenigen Wochen warnte eine Gruppe von Chemikern, bald werde Phosphor knapp werden. Phosphor ist Hauptbestandteil von Düngemitteln und damit ein Stoff, der es überhaupt möglich gemacht hat, eine wachsende Weltbevölkerung zu versorgen. Mit ihrer Warnung nähren die Wissenschaftler die Furcht vor einer überbevölkerten Welt, in der die Nahrung nicht mehr für alle reicht.
Allerdings: Diese düsteren Prophezeiungen werden sich wohl als Fehlalarm herausstellen – so wie alle vorangegangenen Kassandra-Rufe. Eine der wirkungsvollsten Warnungen kam 1972 von dem Club of Rome, in dem sich Wissenschaftler, Manager und Politiker austauschen. Die Gruppe erzielte ein einziges Mal eine breite öffentliche Wirkung, als sie den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte. „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten 100 Jahre erreicht“, hieß es. Die Warnung schien angesichts des nach oben schießenden Ölpreises berechtigt. Wenige Monate nach der Veröffentlichung brach die erste Ölkrise aus. Sie galt als Bestätigung der Prognose.
Dabei hätte bereits damals ein Blick zurück genügt, um die Kurzlebigkeit solcher Vorhersagen zu verdeutlichen. 20 Jahre zuvor hatte der Geophysiker King Hubbert gewarnt, dass die weltweite Ölproduktion in den frühen 70er-Jahren auslaufen würde. Dass es neben den bekannten noch weitere große erschließbare Ölvorkommen geben könnte, hielt er für unwahrscheinlich. Und auch alle nachfolgenden Prognosen vom Ende des Ölzeitalters wurden regelmäßig überholt: Erst vor drei Jahren entdeckte der Ölkonzern Petrobras vor der Küste Brasiliens ein gigantisches Ölfeld, möglicherweise das drittgrößte der Welt. Möglich war der Fund fünf Kilometer unter dem Meeresspiegel nur, weil neue Technologien es erlauben, Öl in der Tiefsee oder aus dem Teersand der kanadischen Tundra zu gewinnen.
Es war auch in vergangenen Jahrhunderten immer der technische Fortschritt, dank dem immer mehr Menschen auf der Erde leben konnten. Tausende von Jahren lebten die meisten Menschen in Armut, Überbevölkerung war eine permanente Bedrohung. Vor Zehntausenden Jahren brauchte eine Person zehn bis 25 Quadratkilometer für sich, um sich von Wild und Pflanzen ernähren zu können. Gruppen, die zu groß wurden, konnten nicht mehr alle Mitglieder versorgen.
Der englische Pastor und Gelehrte Thomas Robert Malthus warnte 1798 davor, dass die englische Bevölkerung schneller wachse als die Lebensmittelproduktion. Diese Entwicklung werde zwangsläufig zu Überbevölkerung und Hungersnot führen. In seinem „Essay on the Principle of Population“ warb er dafür, die Zahl der Geburten in der armen Bevölkerung zu kontrollieren. Andernfalls werde die Natur den Menschenüberschuss mit brutalen Mitteln beseitigen.
Er hat nicht recht behalten. Ironischerweise schrieb er seinen Aufsatz gerade zu einem Zeitpunkt, als die englische Gesellschaft begann, diesem Kreislauf zu entkommen. Gregory Clark, Wirtschaftshistoriker an der Universität von Kalifornien in Davis, glaubt, dass die englische Wirtschaft 700 Jahre lang, vom späten Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, tatsächlich in der malthusischen Falle steckte: Jedes Mal, wenn neue Techniken es erlaubten, mehr zu produzieren, wuchs die Bevölkerung, und die zusätzlichen Mäuler aßen den Zuwachs schnell wieder auf. Im Schnitt blieb für alle genauso wenig wie zuvor. Nur wenn große Teile der Bevölkerung in Kriegen und Epidemien wie der Pest starben, hatten die nachfolgenden Generationen mehr zu essen.
Erst die industrielle Revolution wies den Ausweg aus der Bevölkerungsfalle. Mechanische Webstühle und Stahlproduktion, später auch Dampfkraft und Eisenbahnen trieben eine ökonomische Epochenwende; zunächst in England, später auch in Europa und Teilen von Asien: „Diese wirtschaftliche Entwicklung ist mit nichts vergleichbar, was zuvor in der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat“, schreibt der Nobelpreisträger Robert E. Lucas. Die Bevölkerung wuchs schneller als zuvor, aber der durchschnittliche Wohlstand hielt nicht nur Schritt, sondern legte sogar noch stärker zu. Zwischen 1800 und 2000 hat sich die Weltbevölkerung versechsfacht, gleichzeitig hat sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen verzehnfacht – auch wenn der Wohlstand innerhalb und zwischen Gesellschaften weiterhin ungleich verteilt ist.
Diese über Jahrhunderte andauernde außerordentliche Entwicklung hat allerdings auch Schattenseiten – Umweltverschmutzung, Ressourcenverschwendung und Ausbeutung. Das provoziert neue Warnungen davor, dass der Mensch die Kapazitätsgrenzen der Erde sprengen könnte. Paul Ehrlich beispielsweise, Biologe und Professor an der US-Elite-Uni Stanford, warnte 1968 vor einer weltweiten Hungersnot und einer Katastrophe biblischen Ausmaßes. Mehr als eine Milliarde Menschen sollten in den 70er-Jahren sterben. Amerika werde sich ab 1985 in einem Zeitalter des Mangels befinden.
Die Hungersnöte, die Ehrlich vorhergesagt hat, sind nie eingetreten. Die Weltbevölkerung hat sich zwar seitdem verdoppelt, aber gleichzeitig haben neue Saaten, Kunstdünger und modernere Anbaumethoden auch in Entwicklungsländern die Versorgung mit Lebensmitteln gesichert. Die Auswirkungen dieser sogenannten Grünen Revolution, die in den 40er-Jahren begann, wurden erst 20Jahre später sichtbar – als Ehrlich bereits seine These formulierte.
Die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen erwartet denn auch, dass die Landwirtschaft auch im Jahr 2030 noch genügend Lebensmittel produzieren wird, um die gesamte Weltbevölkerung zu ernähren. Allerdings warnt die Organisation auch, dass Hunderte von Millionen Menschen in Entwicklungsländern auch dann noch Hunger leiden werden. Heute verhungern jedes Jahr sechs Millionen Kinder weltweit. Das ist unnötiges Leid, die Menschheit produziert genügend Lebensmittel für alle. Einzig: Das Verfügbare ist nicht gut verteilt. Eine bittere Statistik des Internationalen Roten Kreuzes illustriert das Drama: Demnach leiden weltweit mehr Menschen unter Übergewicht als unter Hunger.
Ausgleich und internationale Zusammenarbeit sind Grundlagen globaler Lösungen für die gegenwärtigen Verteilungsprobleme. Denn politische Lösungen könnten wichtiger werden. In der Vergangenheit haben ökonomische Zwänge häufig zu Erfindungen und Einsparungen geführt. Wenn Rohstoffe knapp werden und ihr Preis steigt, lohnt es sich, nach günstigeren Alternativen zu forschen. Napoleon beispielsweise ließ Margarine als billigen Ersatz für Butter entwickeln. Und Verbraucher, Autofahrer und Firmen in Nordeuropa, Japan und den USA sparen seit den 70er-Jahren Benzin und Strom. Ökonomen wie der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz glauben allerdings, dass solche Marktmechanismen nicht für alle Ressourcen funktionieren – etwa für Wasser.
Von allem Süßwasser, das auf der Welt verbraucht wird, fließen 98,5 Prozent in die Landwirtschaft oder die Industrie. Häufig bekommen gerade Landwirte Wasser kostenlos oder stark subventioniert. Das Ergebnis ist häufig Verschwendung und falscher Einsatz von Ressourcen. Landwirte brauchen 9100 Liter Wasser, um einen einzigen Liter Biodiesel zu produzieren. Der Markt allein könne in solch einem Fall wenig ausrichten, glaubt Stiglitz. Der Staat müsse mit Steuern und Abgaben Effizienz fördern. Dafür ist internationale Zusammenarbeit nötig. Ein Wettlauf um Öl, Mineralien und landwirtschaftliche Anbauflächen, wie ihn sich China, Südkorea und andere Nationen gerade in Afrika liefern, erschwert dagegen gemeinsame Lösungen.
Nichts spricht deshalb dagegen, dass die Menschheit auch in Zukunft Wege aus dem Ressourcendilemma findet. Heute eher als jemals zuvor, denn der weltweite Austausch von Menschen, Gütern und Ideen ist heute so einfach wie nie zuvor. Das unterscheidet den modernen Menschen einer vernetzten Welt von den Bewohnern der isolierten Osterinseln im 17. Jahrhundert. Über eine Ressource verfügen wir in unbegrenzter Menge: über menschlichen Geist. (Quelle: Welt Online - 24.9.11)